Der linke Journalist und Verleger Émile de Girardin war auch ein guter Kapitalist. Der Franzose gilt als Erfinder der Werbung durch Zeitungsinserate und hat 1852 eine ewige Weisheit für gute Staats- und Unternehmensführung formuliert: «Regieren heisst voraussehen; und nichts zu planen, heisst, in die eigene Vernichtung zu rennen.» («Gouverner, c’est prévoir; et ne rien prévoir, c’est courir à sa perte.»)
Nichts bereitet Sportchefs, Verwaltungsräten und Managern mehr schlaflose Nächte als diese fehlende Voraussicht. Statt agieren müssen sie ständig reagieren und sind rastlos Getriebene der Tagesaktualität.
Noch nie in der Geschichte hat sich ein Hockey-Sportchef so klug an Émile de Girardins Grundsatz gehalten wie Sven Leuenberger. Ende Dezember gibt sein Meistertrainer Marc Crawford aus gesundheitlichen Gründen das Amt auf. Der ZSC-Sportchef befördert Marco Bayer intern vom Trainer des Farmteams (GCK Lions) zum Bandengeneral der ZSC Lions.
Die Herausforderung ist eine gewaltige: Marco Bayer hat zwar eine immense Erfahrung als Spieler, Sportchef, Coach, Assistent – aber noch nie war er Cheftrainer in der höchsten Liga. Er übernimmt zwar eine Mannschaft, die so gut ist, dass sie theoretisch am Telefon zum Titel gecoacht werden könnte. Aber in der Praxis steht er vor der extrem schwierigen Aufgabe, eine Interessengemeinschaft von selbstbewussten Jungmillionären dazu zu bringen, die Egos vor der Kabinentüre zu deponieren und als verschworene Rasselbande an die Leistungsgrenze und oft darüber hinauszugehen. Die Ziele sind himmelhoch: Gewinn der Champions League und Verteidigung des Meistertitels.
Sven Leuenberger findet sozusagen das vertragstechnische Ei des Kolumbus: Er verlängert mit Marco Bayer bereits im Januar vorzeitig gleich bis 2027. Es ist ein «Hybrid-Vertrag» mit zwei Optionen: Entweder kehrt Marco Bayer nach der Saison zu den GCK Lions zurück oder er bleibt Cheftrainer der ZSC Lions. Im Vertrag werden schon die Saläre für beide Varianten festgeschrieben. Sven Leuenberger bestätigt: «Ja, das stimmt, das ist so.» Und ist in diesem Vertrag – sozusagen weise vorausschauend – auch eine Meisterprämie festgeschrieben? «Wir verraten keine Vertragsdetails.» Wer glaubt, Marco Bayer bekomme keine wahrlich wohlverdiente Meisterprämie, zahlt einen Taler.
Mit diesem vorzeitigen Vertrauensbeweis gibt er Marco Bayer die Arbeitsplatz-Sicherheit und Gelassenheit, die seine Position stärken. Kommt dazu: Marco Bayer hat im Frühjahr 2024 die GCK Lions sensationell in den Final der Swiss League geführt. Sven Leuenberger stellt so sicher, dass er für die kommenden zwei Jahre in jedem Fall wenigstens für das Farmteam einen exzellenten Coach unter Vertrag hat.
Der Interessensvertreter von Marco Bayer ist der Spieler- und Traineragent Sven Helfenstein. Der clevere «Schlingel» ist mit seiner Chuzpe der erfolgreichste Lohntreiber unseres Hockeys. Hätte Marco Bayer als Triumphator der Champions League plus Schweizer Meister in diesen Tagen einen auslaufenden Vertrag – dann wären die Salär- und sonstigen Forderungen des Agenten von Marco Bayer unverschämt und so oder so würde sich Sven Leuenberger in einem medialen Sturm im Wasserglas wiederfinden.
Nun aber kann er sich beruhigt zurücklehnen und muss zusammen mit Marco Bayer nur noch ausknobeln, ob er weiterhin ZSC Trainer bleiben oder lieber zu den GCK Lions zurückkehren möchte.
«Diese Argumentation ist nicht ganz richtig», korrigiert Sven Leuenberger. «Sven Helfenstein hätte ein Pokerspiel riskieren können. Er hat halt darauf verzichtet.» Wohlweislich. Sven Leuenberger sagt nämlich auch, nicht wertend, nur als Feststellung: «Es gibt auf dem Markt viele gute Trainer …» Und es wäre anzufügen: Wenn nicht in Zürich, wo könnte dann Marco Bayer nächste Saison Cheftrainer in unserer obersten Liga sein? Eben.
Kommt dazu: Mit unverschämten Lohnforderungen von weit über 300'000 Franken hatte Sven Helfenstein im Frühjahr 2022 seinem Klienten Thierry Paterlini um ein Haar die Chance ruiniert, in Langnau Trainer zu werden. Die Emmentaler reagierten damals mit der ihnen eigenen Gelassenheit, stellten den umtriebigen Trainer- und Spieleragenten in die Schuhe und so ist Thierry Paterlini in Langnau zu einem guten, aber vernünftigen Salär doch noch ein Erfolgstrainer geworden, der jeden Rappen seines Salärs wert ist. Oder wie es einer der Gewährsleute damals so schön ausgedrückt hatte: «Dr Helfi het ächli müesse obeache cho …»
He nu, es ist der Auftrag eines Spieler- und Traineragenten (dieses Doppelmandat wäre in Nordamerika völlig undenkbar), nicht nur das höchste Salär, sondern auch die für alle beste Lösung auszuarbeiten. Wie es Sven Helfenstein nun für Marco Bayer mit Sven Leuenberger ausgehandelt hat.
Weil sich Sven Leuenberger – ganz im Sinne von Émile de Girardin – vorgesehen hat, bleibt ihm nun viel Arbeit erspart. Kein Pokerspiel mit Sven Helfenstein, kein medialer Sturm im Wasserglas um die ZSC-Trainerposition und Zeit und Musse, mit Marco Bayer den Arbeitsplatz für die kommende Saison zu bestimmen. Wer davon ausgeht, dass Marco Bayer lieber wieder zu den GCK Lions zurückkehren möchte, zahlt einen weiteren Taler.
Kommt dazu: Wenn Marco Bayer Trainer der ZSC Lions bleibt, erspart sich der Sportchef viel Arbeit: Dann obliegt es nämlich GCK-Sportchef Patrick Hager, einen neuen Trainer fürs Farmteam zu suchen. Oder? «Nicht ganz», sagt Sven Leuenberger. «Wir suchen jeweils in enger Zusammenarbeit den Trainer fürs Farmteam.» Hält inne und ergänzt: «Sie versuchen wohl mir mit dieser Fragerei die Aussage zu entlocken, dass wir einen Trainer fürs Farmteam suchen und somit Marco Bayer bei den ZSC Lions bleibt. Diese Aussage mache ich nicht.»
Sven Leuenberger kennt halt seine Pappenheimer. Sonst wäre er nicht der erfolgreichste Sportchef der Geschichte geworden. Fest steht: Marco Bayer hat bis 2027 einen Trainervertrag bei der Organisation der ZSC Lions, zu der eben auch das Farmteam (GCK Lions) gehört. Wer glaubt, er werde zum Farmteam zurückgeschickt, zahlt nochmals einen Taler.